National Hurricane Center (NHC)
Das NHC in Miami, Florida, ist eine eigenständige Abteilung innerhalb der Nationalen Ozean- und Atmosphärenbehörde (NOAA), und obwohl es sich um eine US-amerikanische Regierungsbehörde handelt, ist das NHC weltweit DIE zentrale anerkannte Informationsstelle für Tropische Stürme im Atlantik und Pazifik. Wo konnte ich also mehr geballtes Fachwissen für meine Recherchen zu „Sturm“ finden als in Miami? Das Problem dabei: Miami liegt von München aus ja nicht gerade um die Ecke. Meine Fragen per Mail zu stellen wäre das naheliegendste gewesen, doch ob es dort einen Experten gegeben hätte, der Fragen eines Deutschen Autors beantwortet hätte? Ich war skeptisch. Außerdem wollte ich dem NHC unbedingt persönlich einen Besuch abstatten. Ich wollte Leute sowie Räumlichkeiten kennenlernen, die Atmosphäre aufsaugen, und vielleicht die ein oder andere kleine Insider-Information aufschnappen, die man im Internet eben nicht findet. Also startete ich ein eigentlich aussichtsloses Unterfangen:
Außerhalb der Hurrikan-Saison (genauer gesagt nur im Februar, März und April) veranstaltet das NHC alle 14 Tage geführte Touren und Vorträge für Journalisten und die interessierte Öffentlichkeit. Will man die Chance haben, an einem dieser sechs Termine pro Jahr dabei zu sein, sollte man sich mindestens ein Jahr im Voraus anmelden, da jeweils nur max. 15 Personen pro Termin erlaubt sind. Doch selbst bei einer Zusage kann es vorkommen, dass der Termin kurzfristig abgesagt wird; nämlich dann, falls unerwartet doch ein tropischer Sturm in Richtung USA ziehen sollte. Dies ist in den letzten Jahren immer häufiger zu beobachten und wird allgemein als eine Folge der globalen Erderwärmung angesehen.
„Ja, ich will!“
Ein Florida-Urlaub im Zeitraum März/April 2016 stand an, und ich versuchte mein Glück. Im Januar 2016 schrieb ich dem NHC eine Mail, überzeugt davon, eine Absage zu erhalten. Umso überraschter war ich, als die Abteilung „Öffentlichkeitsarbeit“ nur zwei Tage später antwortete. Ich hatte Glück, da gerade ein Teilnehmer für einen möglichen Termin abgesagt hatte. Ob ich diesen freien Platz haben wollte? Selten habe ich auf eine Mail so schnell geantwortet. Binnen Sekunden verschickte ich ein „Ja, ich will!“ und war dabei beinahe so hibbelig wie auf meiner Hochzeit. Naja, vielleicht nicht ganz so aufgeregt. Kurz darauf bekam ich Excel-Formular zugeschickt, in dem ich Angaben zu meiner Person machen musste, inklusive Reisepass-Nummer. In einer US-Regierungsbehörde nimmt man es nun mal ganz genau. Eine Woche später hatten sie mich durchgecheckt und trotz meines ersten Thrillers „Blow Out“ glücklicherweise für harmlos befunden. Ich bekam die offizielle Termin-Bestätigung. Jetzt konnte ich mir meine Fragen an die Experten überlegen.
Ein paar Wochen später war es dann soweit. In der Sonne von Florida erhielt ich eine Mail mit exakten Anweisungen, wie der Termin am nächsten Tag ablaufen würde und was ich zu beachten hatte. So musste ich z.B. meinen Pass dabei haben und genau 10-15 Minuten vor dem Termin am Eingangstor klingeln – nicht früher und auf gar keinen Fall später, denn die Tour sollte um Punkt 11:00 starten. Komm zu spät und du musst draußen bleiben, lautete die Botschaft. Außerdem sollte ich mich auf eine Personenkontrolle einstellen, und die Liste der Gegenstände, die man nicht bei sich tragen durfte, war beeindruckend lang. Natürlich fehlte auch der Hinweis auf das Schusswaffen-Verbot auf dem Gelände nicht. Ein klein wenig musste ich über all das schon schmunzeln. Irgendwie machte es die Angelegenheit für mich aber noch spannender.
Am nächsten Tag stand ich früh auf. Immerhin hatte ich eine 3-Stunden-Autofahrt nach Miami vor mir, und ich wusste ja, dass ich unbedingt pünktlich sein musste. Wer von Florida bisher nur Disneyland oder die herrlichen Strände gesehen hat, macht sich keine Vorstellungen, wie heftig der Berufsverkehr in Ballungszentren wie Miami sein kann. Auf sechs Spuren stockt der Verkehr über Stunden und Dutzende Meilen hinweg – jeweils sechs Spuren in beide Richtungen wohlgemerkt. Ich fuhr also rechtzeitig los, entspannt und gut gelaunt. Was ich nicht wusste: Mein amerikanisches Navi hatte die vom NHC angegebene Adresse – aus welchen Gründen auch immer – doppelt vermerkt. Als ich gegen 10:30 Uhr irgendwo in einem heruntergekommenen Wohngebiet weit außerhalb von Miami durch die Straßen irrte, dämmerte mir, dass etwas nicht stimmen konnte. Ein Navi-Check brachte Licht ins Dunkel: Ich war in einem komplett anderen Stadtteil gelandet, etwa dreißig Minuten von meinem eigentlichen Ziel entfernt. Allmählich bekam ich Panik. Punkt 11:00 Uhr hämmerte es durch mein Hirn. Sollte ich diese einmalige Chance verpassen, weil ich beim Eingeben der Navi-Adresse nachlässig gewesen war, würde ich mich hier in Miami von der höchsten Brücke ins Meer stürzen, direkt hinein in einen Schwarm hungriger Hammerhaie. Ich gab Gas.
Punkt 11:00 Uhr
Um Punkt 11:00 – kein Witz! – drückte ich auf den Buzzer des Eingangstors des NHC. Trotz Klimaanlage im Auto war ich durchgeschwitzt. Die Sprechanlage knarzte, ich nannte mein Anliegen, das Tor öffnete sich und ich atmete auf. Wenn es sich jemals gelohnt hat, innerhalb von dreißig Minuten rund ein Dutzend Verstöße gegen die Verkehrsordnung zu begehen, dann an diesem Vormittag.
Am Haupteingang erwartete man mich bereits. Der Security-Check war rasch erledigt, und man führte mich in den Mediaraum des NHC, wo während der Hurrikan-Saison die Presse-Meetings abgehalten werden. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren und binnen Sekunden fror ich. Der Multi-Media-Vortrag hatte bereits begonnen. Ein sympathischer Mitt-Vierziger stellte den Teilnehmern gerade die Organisation der NOAA vor. Er sah mich und winkte mich heran. Sämtliche Köpfe drehten sich zu mir herum. Mit einem entschuldigenden Lächeln setzte ich mich in die letzte Bank und fühlte mich dabei in meine Schulzeit zurückversetzt. Ja, ich gebe zu, ich war einer von denen, die gelegentlich zu spät zum Unterricht kamen.
Ständig blinkten Zahlen, Daten, Symbole und wirre Linien auf.
Joe Cangialosi, Meteorologe des NHC und spezialisiert auf tropische Stürme, gab rund zwanzig Minuten lang einen Überblick über die Geschichte und Aufgaben des NHC, sowie dessen unterschiedliche Abteilungen, wie zum Beispiel die Hurricane Specialist Unit und die Storm Surge Unit. Ich war überrascht, wie viele Spezialisten aus unterschiedlichen Fachbereichen hier unter einem Dach zusammenarbeiten. Nach dem Vortrag konnten erste Fragen gestellt werden. Danach begann die Führung durch die Räumlichkeiten, deren Einrichtung man mit einem Wort zusammenfassen kann: Zweckmäßig. Kalte, nackte Betonwände. Der einzige „Farbtupfer“ ist eine Fotoserie von besonders zerstörerischen Hurrikanen der letzten Jahrzehnte. Die Schreibtische waren ordentlich und aufgeräumt, obwohl trotz Unmengen an Computermonitoren, PCs und Laptops noch immer sehr viel mit Papier gearbeitet wird. Überall stehen Ablagefächer mit braunen Mappen herum, vollgestopft mit irgendwelchen Computerausdrucken. Wir kamen an einen Schreibtisch mit sieben Monitoren in einem Rundkreis. Ständig blinkten Zahlen, Daten, Symbole und wirre Linien auf. Eine adrette Meteorologin erklärte uns, wie sie von hier aus anhand von Satellitendaten die Wetterlage und Wetterentwicklung des Pazifischen Raumes überwacht. Die Dame machte einen entspannten Eindruck und nahm sich Zeit – das konnte sie auch, denn die stabile Wetterlage gab keinen Grund zur Besorgnis.
In einer Ecke entdeckte ich während des Rundgangs drei betagte Wählscheibentelefone, die mich spontan an meine Kindheit erinnerten. Die Telefone hatten unterschiedliche Farben und jeweils einen Aufkleber mit einer Telefonnummer darauf. Auf Nachfrage erklärte man mir, dass dies die Notfall-Telefone für Hurrikan-Evakuierungen seien, mit direkten Verbindungen zu den wichtigsten Koordinations-Stellen. Die ganze Zeit über machte ich mir eifrig Fotos und Notizen, denn genau das waren diese kleinen Insider-Informationen, die ich mir erhofft hatte. (Übrigens war ich nach dem ganzen Sicherheits-Brimborium im Vorfeld überrascht, dass niemand etwas gegen das Fotografieren einzuwenden hatte.)
Treffen mit einem ehemaligen Hurricane-Hunter
Wenig später hatte ich erneut Glück, denn mir lief ein ehemaliger Hurricane-Hunter über den Weg, der vor kurzem eine neue Aufgabe im NHC übernommen hatte. Diese Hunters fliegen mit speziell ausgestatteten Flugzeugen mitten in Hurrikane, um dort meteorologische Daten zu erfassen. Der große, hagere Mann wollte wissen, ob ich Fragen zu den Sturmfliegern hätte. Da war er genau an den richtigen geraten. Ich bombardierte ihn geradezu mit Fragen und wurde wiederum mit einigen hochinteressanten „Insider“-Informationen versorgt.
Langsam näherte sich das Ende der Tour. Bei der Verabschiedung fasste ich mir ein Herz und fragte Joe Cangialosi, ob er noch ein klein wenig Zeit hätte. Ich hatte noch so viele Fragen. Er lächelte; eine Viertelstunde war noch drin. Geduldig beantwortete er mir alle Fragen, die ihm teilweise ziemlich komisch vorkommen mussten, konnte er doch nicht ahnen, welche Szenarien sich in meinem Autoren-Hirn so alles abspielten. Dann war die Zeit um. Ich bedankte mich und verließ das NHC. Draußen auf dem Parkplatz brannte die Sonne von Himmel, und ich wärmte mich nach den frostigen Temperaturen im Gebäude erstmal auf. Mit meinem neu gewonnenen Wissen machte ich mich dann zufrieden – und ohne Zeitdruck – auf die Rückfahrt.
Vielen Dank noch einmal an dieser Stelle an Dennis Feltgen und John Cangialosi.